Mittwoch, 17. Dezember 2014

Mit Rolf nach Werben

Endlich, wir haben ein Auto. Das mit dem Autokauf war gar nicht so leicht, weil hier in der Gegend kaum jemand ein neues Auto kauft, sondern alle hinter gebrauchten her sind.  Sprich der Gebrauchtwagenmarkt ist der eigentliche Automarkt; und wenn ein Autohaus einen halbwegs gescheiten in die Finger kriegt, dann motzen sie die Kiste auf bis sie aussieht wie ein Neuwagen; halt nur mit 120 000 Kilometer Laufleistung. Und der kostet dann eben schnell 12 000 Euro. Nee, das war nicht das richtige.

Dass wir jetzt doch ein anderes, nicht aufgemotztes (wenn auch tiptop frisch geputztes und ausgesaugtes!), ein wie gewünschtes, ein tolles Auto haben, das ging so: Vor ein paar Wochen besuchte ich unsere Freunde in Berlin. Einer begleitete uns abends nach unten, nahm einen Kindersitz aus einem alten Passat Kombi, den ich nicht kannte und von dem ich nicht wusste, dass er ihn hat. Ich so: "Is ja cool. Wo hast'n den her? So einen will ich auch." Er so: "Kannste haben." Ich so: "Nehm ich." Das ist die Kurzversion, die einen schwierigen Besuch beim TÜV, eine verlorene Zulassung, einen verbasselten Tankstutzen und ähnliches ausspart. Kurz und gut: Jetzt steht er bei uns vor der Tür, der Passat. Wir haben ihn Rolf getauft, nach dem zweiten Vornamen des vorherigen Besitzers und Abverkäufers, er ißt Benzin und trinkt Flüssiggas, ist vom vielen Fahren schon ganz grau, aber ein verträglicher Zeitgenosse ganz nach unserem Geschmack.

Nach fünf Jahren ohne Auto fühlt sich das noch nicht so richtig an wie unser Auto. Da werden wir uns wieder dran gewöhnen. 

Der erste Ausflug führt uns nach Werben, 13 Kilometer von hier, aber noch zur selben Verwaltungsgemeinschaft (sehr deutsches Wort) gehörend. Für alle Ortsunkundigen: Werben ist Hansestadt und zudem die kleinste Stadt Deutschlands, hat rund 1200 Einwohner und kämpft wie ein kleines gallisches Dorf ums Überleben und das gegen widrigste Umstände. Werben liegt nämlich irgendwie ganz hinten in Sachsen-Anhalt. Die Stadt wirkt, als sei sie direkt aus dem Mittelalter ins heute gefallen. Klein, aber stolz, rundherum Elbwiesen. Bloß schaffen es moderne Verwaltungsmassnahmen (noch so ein deutsches Wort) immer wieder, ihr einen Hieb ins Genick zu versetzen. Die letzte, äusserst heftige, kam im Sommer und drehte der Grundschule das Genick um. Zu, fertig, geschlossen, Ende, aus. Jetzt müssen die Knirpse jeden Morgen 13 Kilometer Schulbus nach Iden fahren. Zwergschulen gibt es in Sachsen-Anhalt nicht. Zwergstädte hin oder her. 

Trotzdem, Werben kämpft ums Überleben. Und eine dieser Kampfansagen ist der Biedermeier-Christ-Markt, der jedes Jahr am 3. Adventswochenende stattfindet. Licht aus lautet dann die Devise; denn dieser Weihnachtsmarkt kommt - bis auf ein paar versteckte Taschenlampen - ohne elektrisches Licht aus; nur Kerzenlicht ist erlaubt. Es ist das gegenteiligste, was man sich vorstellen kann, wenn man ans Weihnachtsshopping in der Zürcher Bahnhofstrasse denkt. Kein Bling, kein Glitzer. Nur warmweisses Licht. Nein, geschäftsfördernd ist das nicht; zumal man die Stände im Dunklen kaum noch erkennt, von den Waren ganz zu schweigen. Egal, es wird schmecken. Eine Schmalzstulle mit Gurkenschnitz, 75 cent. Ein Stück hausgebackener Kuchen, 1 Euro. Eine grobe Bratwurst vom Biobauern aus dem Nachbardorf, Preis unbekannt, hat Florian bezahlt. Die Leute an den Ständen kommen aus Werben oder den Orten rundherum, sie machen das nicht, weil sie dafür Geld bekommen. Sie wollen mittun, helfen, ein Teil des Ganzen sein. Und so spüre ich in Werben die Liebe der Leute zu ihrem Flecken Erde. 


Dann kommen wir an die Johanniskirche. Wobei "Kirche" etwas kleineres vermuten lässt, als das, was da steht. Tatsächlich ist St. Johannis in etwa so gross wie das Zürcher Grossmünster, nur steht er eben neben zweigeschossigen Fachwerkhäusern und es ist kein Prime Tower in der Nähe. Das Töchterchen sieht die Kirche und sagt: Das is aber eine große Kirche. Ja, das muss man ihr lassen, den Blick für sowas hat sie. Drinnen findet ein Weihnachtsliederabend statt, die Oma singt im Chor mit, wir hören zu. Rund 300 Leute in der Kirche mit uns, die Stimmung ist feierlich und ergriffen. Und ich denke: Ich bin froh, dass meine Kinder die Adventszeit so erleben dürfen. Tochter Zion. Ohne Bling. Maria durch ein Dornwald ging. Ohne Glitzer. Oh du fröhliche. Das Töchterchen staunt. So viele Leute. So schöne Musik. Sie hört zu, sitzt auf Papas Schultern, fragt hin und wieder etwas, aber ist geduldig. Ach. 

Draussen dann altmärkisches Networking, ein Chorbruder der Oma - ein vor 23 Jahren zugezogener Schwabe mit noch immer manifestem hochdeutschem Schwäbisch - kennt einen, der wieder einen kennt, der uns einen Maurer vorstellt, der auch Zimmermann kann. Wo isch denn der Tobias? Der hettsi doch selbständig gmacht, oder? Hier isch oiner, der hett es alts Haus in Havelberg kauft, der braucht en Zimmerma. Hey, Tobias, der Günther sacht, Du hast Kundschaft hier, kommal ran da. Ja, hmm, Fachwerkhaus in Havelberg jekooft. Ja, hmm, Foto uffm Handy. Ja, wa, keen Problem, so'n Altholzlager habick och. Nee, wa, dann müsster mal anrufen, dann komm ick mal rum, wa und guck mir det an. Nee, hammer noch immer hingekriegt, wa. So sieht hierzulande Optimismus aus. 



Donnerstag, 4. Dezember 2014

Neiwärschnitz

Heimatbesuch im Erzgebirge. Um es für alle Unkundigen Unhiesigen klar zu stellen: Der Ort heisst nur im Dialekt wie im Titel, auf dem Ortseingangsschild steht korrekt Neuwürschnitz, gelegen am Flüsschen Würschnitz, rund 20 Kilometer von Chemnitz entfernt, direkt an der A72. Die verkehrsgünstige Lage ist uns aber insofern schnuppe als dass wir mit dem Zug anreisen, weil's bequemer ist und - und damit hat sich die Wahl des Verkehrsmittels ohnehin erledigt - weil wir noch immer kein Auto haben. Wir schlagen uns also mit der Deutschen Bahn von Stendal nach Chemnitz durch, zum vermutlich grössten Regionalbahnhof Europas. Rund zwanzig Gleise, aber nur Bummelbahnen. Das perfekte Umfeld für den grossen Auftritt: Wenn man mit zwei kleinen Kindern unterwegs ist, die Autobabyschale klemmt per Spanngurt auf dem Maclaren (hehe, schliesslich kommen wir aus Zürich!) und der riesen Koffer lastet als Rucksack auf Mutters Rücken, dann wirkt man für die Mitreisenden schon ein bisschen als Held. Wer mich kennt, der weiss: Ich mag das. 

Und, an dieser Stelle, so ganz unter uns: So kompliziert isses gar nich, man muss sich nur gut organisieren. Und es ist hierzulande noch einfacher als anderswo: Ständig bekommt man Hilfe angeboten und der Gipfel der Hilfsbereitschaft liegt - na wo wohl: In Sachsen. In Chemnitz steigt eine dreiköpfige Reisegruppe mit mir aus dem Zug; wohl die Eltern mit ihrem erwachsenen Sohn, sie kommen via Flughafen Leipzig aus den Ferien in Südostasien zurück. Grosses Durcheinander, jeder hilft jedem mit Koffern und Kindern - und dann hebt man mir ungefragt vor der Nase die Babyschale aus dem Zug, drin das kleine Wichtelchen. Fünf Jahre in der Schweiz machen jetzt, dass ich ziemlich verunsichert nach draussen gucke. Aber keine Panik, es mischen sich hier nur die Gepflogenheiten von Sachsen und Südostasien: Auf dem Bahnsteig stehen fünf Leute im Kreis, einer hält die Babyschale hoch und alle bestaunen den Inhalt. Ein Glück bin ich von hier und mit dem Menschenschlag vertraut, sonst wär ich jetzt wohl schweizerisch diplomatisch ausgerastet.

Überhaupt, die Hilfsbereitschaft und unbedingte Zutraulichkeit, die in der Heimat herrscht. Ich stehe an der Edeka-Kasse im Dorf, das Wichtelchen im Tragtuch, will die Einkäufe im Rucksack verstauen. Die Kassiererin kennt mich nicht und packt doch - natürlich ungefragt - meine Einkäufe in den Rucksack und hilft mir beim Aufsetzen. Wahrscheinlich denkt hier so mancher insgeheim, wer keinen Kinderwagen hat, dem fehlt einfach das Geld dafür. Arme Frau. Maclaren, gell...

Dann noch ein schneller Sprung in die Bäckerei, eigentlich soll es nur ein Spritzring werden, ein heissgeliebter, lang vermisster Spritzring. Aber dann liegt da dieser Kuchen mit Puddingfüllung und Schokoguss. Gleich gibt's Mittag.... Trotzdem: Der Kuchen kommt nicht heile daheim an. Hä, wenn man in Zürich wüsste, wie gut Schokoguss auf Pudding auf Teig sein kann! 





Für meinen grossen Wicht bedeutet die Reise vor allem wohl eines: Verunsicherung. Zu selten waren wir bis jetzt im Erzgebirge, zu kurz waren die Besuche jeweils. Was mir völlig vertraut ist, kennt sie nicht. Mama spricht plötzlich Dialekt. Und das Töchterchen selbst kann nur ein Wort: Neiwärschnitz.  Hat ihr die Omi im Sommer bei einem Besuch in Zürich beigebracht. Trotzdem, was diesen Ort und das Drumherum ausmacht, das ist für das Töchterchen eine grosse Unbekannte. Nicht nur, dass die Omi all diese Küchengeräte hat, die wirklich wunderlich sind: Brotschneidemaschine und Mikrowelle. Und dann sind da eine Menge Leute, die völlig vertraut mit ihr umgehen - da paart sich die natürliche Zutraulichkeit mit familiärer Verbundenheit - und die sie noch nie gesehen hat und deren Namen sie nicht kennt. Mama, sag mal, wer ist das? Mäuschen, das ist Dein Cousin! Und wo ist der Mann, der hier wohnt? Du meinst Onkel Jens? Ui, wir haben viel aufzuholen. 


Auf der Rückfahrt, eine Woche und eine fiese Erkältung später, tut der grosse Wicht kein Auge zu. Ich habe Kopfschmerzen und bin noch immer verschnupft. Alle Mittagsschlafversuche brechen wir ergebnislos ab. Und dann ist sie da wieder, die pragmatische Hilfsbereitschaft. Sie sitzt neben uns, im RE 30 von Magdeburg nach Wittenberge, ist eine Frau von vielleicht fünfzig, die in Magdeburg den verkaufsoffenen Sonntag fürs Geschenkekaufen genutzt hat. Ob sie ein Buch vorlesen soll? Die Wahl meiner Tochter fällt auf "Zottel, Zick und Zwerg", eine Schweizer Berggeschichte von Alois Carigiet. Das Büchlein bekamen wir von einem lieben ehemaligen Kollegen aus meiner Zeit in Schlieren geschenkt. Die Frau liest vor und plötzlich klettern wir in den Bündner Bergen statt im Zug durch die flache Landschaft der Altmark zu flitzen. Die kleine Zuhörerin lehnt sich an den Sitz, schläft fast ein. Kurz nach dem Ende der Geschichte kommen wir in Goldbeck an, steigen aus. Daheim in Iden das Gefühl: Gut, wieder zu Hause zu sein. 




Falls übrigens jemandem auffallen sollte, dass ich sehr viele Doppelpunkte verwende: Ich mag die. Bloss mal so.