Samstag, 22. November 2014

Der Umzugs-LKW kommt

Endlich: Der Umzugswagen kommt! Das Wetter an diesem Sonntagmorgen ist grau, kalt, windig, nieselfeucht. Ausser uns kein Auto, das auf die Elbfähre wartet, nicht auf unserer, nicht auf der anderen Seite. Im Radio läuft "our house is a very very very fine house... with two cats in the yard...". Nette Geste vom Musikredakteur, danke öffentlich-rechtlicher Rundfunk. 

Am Havelberger Marktplatz kommt uns der Makler schon entgegen, dicke Jacke und in der Hand eine Gefriertüte voll mit Schlüsseln. Fürs Foto schüttet er sie aufs Pflaster. Ein Kilo ist das mindestens, für jedes Hauptschloß mehr als zehn. Dazu noch diverse für Schuppen, Büro, Keller und was weiß ich was. Wenn wir mal gar nichts mehr zu tun haben, dann probieren wir mal, welcher wo passt. Oder lassen das die Kinder machen, als Schlüsselmemory sozusagen. Auf die Anzahl der Schlüssel gerechnet, haben wir für unser Geld jedenfalls tüchtig was bekommen. Man bedenke: Für einen Traum von Fertig-Haus auf der Wiese vorm Dorf gibt's oft nur drei oder vier dazu. 



Der Moment der Wahrheit, ich nehme zum ersten Mal den Schlüssel selber in die Hand, schliesse die Hintertür auf. Unser Haus! Die Vordertür lasse ich für F. wenn er dann da ist. So, liebes Haus, jetzt müssen wir uns aneinander gewöhnen, Freunde werden, die es durch dick und dünn miteinander aushalten. Mal wird der eine, mal der andere nachgeben müssen. Du bist gute 250 Jahre älter als wir, aber wir hoffen natürlich, dass Du mit der Jugend auch nachsichtig umgehst und ein paar unserer Flausen mitmachst. Wir wollen Dir so viel Respekt zollen, wie es irgend möglich ist. Und wie es Sinn macht, damit Du in unserer gemeinsamen Zeit weiter würdevoll altern kannst. 

Dann dauert es und dauert und dauert... noch eine schier endlose dreiviertel Stunde, aber dann rumpeln LKW-Reifen auf dem Kopfsteinpflaster die Mühlstraße entlang. Der LKW ist da! Ich winke den drei Jungs zu, lotse sie zum Markt hoch. Herrlich! Wunderbar! Freude! Ich muss nach oben schauen, Freude, ein Tränchen. Unsere Sachen sind da! Am liebsten würde ich das allen rundum zurufen - unsere neuen Nachbarn wissen ja noch gar nichts von ihrem Glück. Wieder so ein Moment, den ich mir oft vorgestellt habe, den ich so oft gedacht habe. Jetzt ist er wahr, jetzt gibt es diesen LKW wirklich und drin sind unsere Sachen. Wir sind da! 



Die Männer sind drei jungsche Deutschrussen, einer schlacksig, einer schüchtern, einer ist der Checker. Der öffnet die hinteren Türen vom LKW. Zuerst sehe ich meine Geranie, dann ganz obenauf auf der Ladung unser Bullit. Alles da! Die Geranie blüht noch, die Schwiegermutter trägt sie in den Hausflur und stellt sie auf den Backsteinboden, den lang gewünschten Backsteinboden. Jetzt ist Leben im Haus, das Kennenlernen beginnt. Liebes Haus, das ist Deine erste Blume seit langer Zeit. 

Bis zur Decke ist der Wagen voll, die Männer laden routiniert aus, tragen alles in den grossen Raum im Erdgeschoss. Links stellen wir die Küchen- und Kinderzimmersachen hin, rechts Ess- und Schlafzimmer. Damit wir in den kommenden Wochen auch Zeug wiederfinden. Draussen beobachtet Martha das Ausladen aus dem Kofferraum von Opas Auto und begrüsst jedes bekannte Stück freudig: Ihr Gartenstuhl, ihr Roller, Papas Fahrrad, das Sofa. Es ist grau, es nieselt, es ist kalt. Und wir freuen uns. 

Drinnen steht der Schlacksige mit einer Kiste da: Wo die hin soll? Estrich steht drauf. Wie blöd von mir, dachte ich schon in Zürich, als ich das draufschrieb. Kurz vorm Integriertsein. Trotzdem hab ich's draufgeschrieben. Als ich dem Schlacksigen erkläre, dass das Dachboden heisst, muss er lachen. Komisch, dieses Schweizerdeutsch. Estrich ist doch sowas wie Beton. Komisch, wirklich. 

Als alles abgeladen ist und verstaut und der Möbelwagen wieder weg schaue ich alles an und denke: Wie klein alles hier wirkt. In Zürich war ein Umzugskarton im Flur riesengross, hier ist er winzig - und unser ganzes Umzugsgut nimmt gerade mal ein Viertel des Hauses ein und ist auch dort noch lose verteilt. Wahnsinn. 

Zurück bei den Schwiegereltern will ich eigentlich nur eines: Wieder ins Haus, das Haus mit unseren Dingen bekannt machen, dort sein. Aber daran ist noch nicht zu denken, wir haben im Moment weder Strom noch Wasser und schon gar keine Heizung. Nachts träume ich, wir hätten gar nicht alles eingepackt, in einem Wohnzimmer und einem Dachboden - die beide nicht zu unserer Wohnung gehören - lagern noch Unmengen von Vasen, Büchern und Kinderspielzeug, das wir noch verpacken und irgendwie von Zürich hierher kriegen müssen. 

Our house is a very very very fine house... Sollten wir doch statt einer vielleicht zwei Katzen anschaffen? Meine Güte, das ist noch lang hin. 



Mittwoch, 5. November 2014

Das Gastkind

In Sachsen-Anhalt hat jedes Kind von Geburt bis zur sechsten Schulklasse Anspruch auf einen Platz in der Ganztagsbetreuung. Die Ausläufer dieser Regelung erstrecken sich sogar auf Kinder, die gar nicht dauerhaft vor Ort wohnen, sondern nur vorübergehend: In Iden, dem Dorf der Schwiegereltern dürfen sogar Kinder in den Kindergarten, die nur zu Besuch sind. Kurz und gut, gleich am ersten Tag unseres Aufenthaltes erfuhr der Schwiegervater, dass unsere Große als Gastkind willkommen wäre. 10 Tage im Monat darf sie dort sein, wenn sie und wir das wollen sollten sogar ganztags. Ab sofort. Die ausserfamiliäre Kinderbetreuung handhabt man hier nach wie vor äusserst selbstverständlich und pragmatisch - deswegen aber nicht weniger liebevoll. Aber man macht kein riesiges Aufhebens daraus, dass ein Kind seinen Tag auch mit anderen als nur mit den Eltern verbringt. 

Also los zur Kindergartenbesichtigung. Formulieren wir das Ergebnis positiv: Mit dem Kindergarten hat sich der Architekt wirklich irgendwie Mühe gegeben. Alle vier Gruppenräume hat er nach Süden ausgerichtet, das Büro und einer der Waschräume dagegen nach Norden. Blöd nur, dass es von der südlichen Kindergarten- bis zur nördlichen Dorfgastättenfassade nur gute drei Meter sind und die Räume folglich - sagen wir es freundlich - etwas dunkel wirken. Mein spontaner Gedanke: Oh Du gelobtes Schweizer Wettbewerbswesen... Manchmal macht es schon Sinn, wenn bei der Entscheidung ein paar mehr Leute mitreden dürfen. 




Nun geht die große Tochter also jede Woche für zwei Tage hier in den Kindergarten, für je vier Stunden. Es gefällt ihr, sie hat Spaß daran und fragt, ob sie künftig öfter hin darf - oder länger. Aber eine Ganztagsbetreuung von morgens sieben bis abends halb sechs muss ja nun im Moment nicht unbedingt sein, soviel Schweiz steckt uns auf alle Fälle in den Knochen. Jedenfalls ist es auch fast die einzige Möglichkeit, andere Kinder zum Spielen zu haben: Alle Kinder aus dem Dorf sind dort, keines bleibt daheim. 

Das Frühstück muss sie selbst mitbringen und ich hoffe, sie ist nicht das einzige Kind ohne Fruchtzwerge in der Tasche. Der Essensplan für mittags liest sich wie das Schulküchenessen zu meiner Zeit: Senfeier, Milchreis, gebratene Jagdwurst mit Nudeln und Tomatensauce. Naja, seit 1987 sind Vollkornnudeln dazugekommen. Wenigstens gibts montags keinen Eintopf, wie es sich bei mir als Trauma festgesetzt hat. Noch heute denke ich zuerst an Schulküche und Montag, wenn ich das Wort "Eintopf" höre. 

Jedenfalls ist sie sehr stolz, dass sie jetzt schon mit drei Jahren in den Kindergarten darf; in Zürich hätte sie noch zwei Jahre länger in die Krippe gehen müssen. Jaja, sie sind eben doch irgendwie ganz schön schnell, diese Deutschen.

Für mich selbst gibt dieser Kindergarten das heimelige Gefühl, meiner Tochter irgendwie auch einen Teil unserer Lebensgeschichte mit auf den Weg geben zu können. Dieser Gedanke kam mir durch ein Wandbild im Eingang. Es liesse sich mit dem Titel "Die Kinder der Welt" benennen. Tatsächlich hat es wohl keinen wirklichen Titel, es wurde vor vielen Jahren von einer künstlerisch sehr begabten Dorfbewohnerin gefertigt. Heute würde es wahrscheinlich nicht mehr als politisch korrekt durchgehen, zu stereotyp sind die Bilder. Ursprünglich hing es im alten Kindergarten des Dorfes und ich muss meinen Mann bei Gelegenheit fragen, ob er sich daran erinnern kann. Als Vierjährige hörte ich im Kindergarten oft vom Leben der Kindern in anderen Ländern - ob sie Hunger litten, schon arbeiten mussten oder ihre Eltern als politisch Verfolgte im Gefängnis saßen. (Dabei wurde natürlich geflissentlich verschwiegen, dass es Letzteres auch in unserem unmittelbaren Umfeld gab und genauso unrecht war wie im Falle der Kinder, für die wir Mitleid aufbringen sollten.) Trotzdem: Man hat uns damals beigebracht, auch die anderen zu sehen - und dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass es uns gut geht und dass wir uns darüber freuen können. Vielleicht hat sich - zusammen mit dem Wandbild - etwas von diesen Erzählungen und von diesem Denken erhalten. 








Samstag, 1. November 2014

Ankommen

Als ich mich im Zürcher Stadthaus offiziell abmelde, fragt mich der Mitarbeiter mit ehrlichem Interesse, wo in Deutschland meine neue Adresse denn liege. Also, sage ich und hole Luft, wenn Sie Deutschland anschauen, dann sehen Sie Berlin. Und sie sehen Hamburg. Und zwischen den beiden ist Nichts. Und mitten im Nichts, da ist es. Ah, und die Strasse heisst Ernst-Thälmann-Strasse. Wer war der, dieser Thälmann? Guter Tag heut, ihm das kurz zu erklären, sage ich, dieser 7. Oktober, früher mal Tag der Republik, also Staatsfeiertag der DDR. Also, Thälmann: Verordneter Held der DDR-Kinder, weil in den 1920ern KPD-Vorsitzender und prominenter Hitler-Gegner. Erschossen im KZ Buchenwald. Ob meiner Meinung nach ein Schweizer sowas wissen sollte, fragt der Mitarbeiter des Stadthauses. Nee, aber das Jahr des Mauerfalls und das der Wiedervereinigung, das wär doch gut. Und dass die Strasse immernoch Thälmann-Strasse heisst, ob das ok wär? Unter dem Aspekt, dass Thälmann als Schuljunge - so hatte ich es zumindest in den 80ern im Unterricht beigebracht bekommen - zuverlässig sein Pausenbrot mit hungrigen Kameraden teilte, finde ich das akzeptabel. Schliesslich wurde die Strasse zu DDR-Zeiten angelegt und ob Thälmann sich von den DDR-Oberen wirklich so vereinnahmen lassen wollte, könnte man infrage stellen. Obwohl, das muss man auch wieder zugeben, mir nie jemand das mit den Pausenbroten mit ordentlichen Quellenangaben belegt hat. 




Im Nachtzug nach Berlin schlafen die Kinder schlecht und wir selber noch schlechter. In meinem Kopf laufen die vielen großen Gedanken immer wie an einem Billardtisch an die Bande. Um 7 Uhr 19 soll der Zug in Berlin sein. Nach einer furchtbaren Nacht mit wirklich wenig Schlaf weckt mich das Handy um viertel vor sieben dreiviertel sieben. Der Zug steht im Bahnhof und beim Blick nach draussen sehe ich: Halle S./Hauptbahnhof. Wirklich, Halle ist eine schöne Stadt. Also teilweise. Aber man möchte dort einfach nicht morgens um kurz vor sieben sein. Schon gar nicht wenn Berlin die eigentlich erwartete Alternative ist. 

Kurz und gut: Nachts plagten den Zug "technische Probleme" (genauer wollte die Zugbegleiterin sich nicht ausdrücken) und wir kommen schlussendlich mit 80 Minuten Verspätung in Berlin an. Bis zum nächsten Zug nach Stendal knapp zwei Stunden Wartezeit. Also in eine Bäckerei vor dem Hauptbahnhof. Wir bestellen zwei Kaffee, belegte Brötchen und eine warme Milch. Hattse leider nich, sagt die Bäckereifachverkäuferin. Und die aus der H-Milch-Packung, die für den Cappuchino? Darfse nich, sagt die Bäckereifachverkäuferin. Weil jibbs keene Position in der Kasse dafür, kannse nich drücken. Hmm. Das ist das Töchterchen nicht gewohnt und ein müdes Kind kann sehr oft und sehr lange sagen, was es möchte. Unseres zumal. Wir sitzen am Tisch, da kommt die Bäckereifachverkäuferin mit einem Becher Milch hinter der Theke vor, stellt ihn hin und sagt: Ach, ick weeß doch, wie dis is. Bin doch ooch Mutti. Und dann streicht sie dem quengelnden Töchterchen über die ungekämmten Locken. Ach, denk ich, willkommen daheim. 

Am Bahnhof in Stendal begrüssen uns die Schwiegereltern mit roten Rosen. Für die nächsten Wochen wohnen wir bei ihnen in ihrem Häuschen in Iden auf der westlichen Elbseite; von hier aus lässt sich der Start in Havelberg leichter organisieren: Wohnungssuche für die Übergangszeit, Kontakte knüpfen, ein Auto kaufen, Behördengänge erledigen. 

Nachmittags Notartermin. Das Ergebnis: Der Kaufvertrag fürs Haus ist unterschrieben, jetzt gehen die Dinge bis zur Schlüsselübergabe ihren Gang. Kurze Stippvisite am Haus, der Apfelbaum im Garten trug diesen Herbst reichlich. Süsse Sorte, nix zum Lagern, aber gut zum gleich essen. Bei der Rückfahrt nach Iden setzen wir mit der Fähre in Räbel wieder über die Elbe. Die Bäume in den herrlichsten Herbstfarben, die Sonne als oranger Ball hinter den Pappeln vor Werben. Danke, Altmark, für diese Begrüssung. 

Jetzt gewöhnen wir uns Tag für Tag, Ding für Ding, Ablauf für Ablauf wieder an das, was Heimat war und Heimat werden soll. Komisch, eigentlich gehören wir ja dazu. Nur waren wir so lange weg. Sag ich den Leuten, dass wir aus Zürich hierher zurück kommen, verändert das gleich ihre Haltung: Bauch rein, Brust raus. Grade stehen. "Zürich", so denken die Leute hier, ist von A bis Z reich und edel, irgendwie so Prada und Gucci, so Porsche und Champagner, und zwar 24 Stunden, 7 Tage die Woche. Die hiesigen empfinden sich als anders; nicht alle gleich, aber irgendwie anders. Jedenfalls weniger reich und edel. Nicht grade bettelarm, aber nun wirklich auch nicht reich, irgendwie anders eben. Bloß - dieser Gedanke steht manchem auf die Stirn geschrieben - wie soll man denn auf diese Leute aus dem ach so edlen, eleganten Zürich reagieren, wie mit denen umgehen? "Wär' schön, wenn sich die Altmark künftig auch selber mag", sagte der gummibestiefelte Nachbar im Garten heut zu mir und stützte sich dabei auf den Spaten. Bin am Überlegen, ob ich künftig nicht einfach sage, wir kämen aus dem ländlichen Süddeutschland in die Altmark zurück. 

Oder ist das alles nur in meinem Kopf?